F. Biermann u.a. (Hrsg.): Pfarrkirchen in Städten des Hanseraumes

Titel
Pfarrkirchen in Städten des Hanseraumes. Beiträge eines Kolloquiums vom 10. bis 13. Dezember 2003 in der Hansestadt Stralsund


Herausgeber
Biermann, Felix; Schneider, Manfred; Terberger, Thomas
Reihe
Archäologie und Geschichte im Ostseeraum 1
Erschienen
Rahden/Westf. 2006: Verlag Marie Leidorf
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
€ 71,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie Rüther, SFB 496 ‚Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesyteme’, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Mittelalterliche Pfarrkirchen prägen bis heute unser Bild der hansischen Städte. Möglicherweise ist es gerade die unmittelbare Evidenz ihrer physischen Erscheinung, die den eigentümlichen wissenschaftlichen Umgang mit ihnen als historischem Forschungsgegenstand motiviert. So wird das scheinbar unverbrüchliche ‚Dasein’ der sakralen Bauten über die Jahrhunderte hinweg, das jedermann auf den ersten Blick unmittelbar zugänglich ist, zum Ausgangspunkt einer Forschungsrichtung, die sich offenbar die Dokumentation respektive Rekonstruktion dieses Daseins zu ihrer Aufgabe gemacht hat. Demnach ist der Titel des vorliegenden Bandes, der auf ein interdisziplinäres Kolloquium zurückgeht, bereits als Programm zu verstehen: Die Kunsthistoriker und Historiker, Archäologen und Bauforscher, Inschriftenkundler und Archivwissenschaftler, die 2003 in Stralsund zusammenkamen, sprachen über die Pfarrkirchen des Hanseraums, ihre Form und Ausstattung, ihre Bau- und Nutzungsgeschichte, ihre Ausstattung und Besitzungen. Doch lässt die Publikation der 25 Beiträge, in der „sowohl regional, chronologisch als auch thematisch eine kulturgeschichtliche Vielfalt vorgestellt“ (S. 11) wird (kulturgeschichtlich hier wohl eher im Sinne der älteren Kulturgeschichte verstanden), die Rezensentin etwas ratlos zurück. Denn entgegen dem von den Herausgebern in der Einleitung formulierten Anspruch wird in den einzelnen Aufsätzen kaum thematisiert, inwiefern diese Vielfalt „über den jeweiligen Einzelfall hinaus exemplarische Bedeutung besitzt“(S. 11). Das mag zum einen daran liegen, dass die dem Band vorangestellte Einleitung auf die Formulierung gemeinsamer Fragestellungen weitestgehend verzichtet. Zwar wird die herausragende Bedeutung der Pfarrkirchen für das städtische Leben vom Mittelalter bis in die Gegenwart herausgestrichen und auf die vielfältigen Funktionen der sakralen Bauten in der Vormoderne hingewiesen, aber über deren Nachweis im Einzelfall hinaus wird daraus kein gemeinsames Forschungsinteresse entwickelt. Zum anderen fehlt dem Tagungsband eine thematische Gliederung seiner Beiträge, die jedoch sehr wohl möglich gewesen wäre und aus der sich vielleicht auch unterschiedliche Forschungsperspektiven hätten ableiten lassen.

Eröffnet wird der Band durch zwei Beiträge, die sich mit der Frühgeschichte einzelner Kirchen im Ostseeraum befassen, wie der ersten nachweisbaren Holzkirche in Altlübeck (Manfred Gläser) und den Kirchgründungen Bischof Ottos von Bamberg in Pommern, insbesondere auf Usedom (Felix Biermann). Diesem Komplex der archäologischen Rekonstruktion früher Kirchbauten lassen sich auch die Abhandlungen von Edgar Ring und Dana Vick über die Lüneburger Pfarrkirche St. Lamberti und Wolfgang Niemeyer zu St. Petri in Höxter zuordnen. Wurde St. Lamberti 1860/61 wegen Einsturzgefahr abgerissen, musste die Pfarrkirche in Höxter im Königreich Westfalen einem klassizistischen Schulgebäude weichen. Wenn sich aufgrund des Lamberti-Patroziniums für die Lüneburger Pfarrkirche aus dem 13. Jahrhundert eine ältere Gründung vermuten lässt, macht sich Ulrich Real auf die Suche nach einer schlüssigen Erklärung für das eher ungewöhnlich zu nennende Patrozinium des Thomas von Canterbury für St. Thomae in Merseburg. Warum aber „St. Jacobi jünger als St. Nikolai“ (S. 89) einer Erklärung bedarf und worin die liegen mag, bleibt auch nach der etwas wirren Tour de Force von Heidrun König durch die reichhaltigen Ergebnisse der Patrozinienforschung unklar. Von dieser Ausnahme abgesehen, gelingt es den genannten Beiträgen auf der Grundlage archivalischer Quellen und archäologischer Befunde die Baugeschichten der verschiedenen Kirchbauten in dezidierter Form zu dokumentieren, doch ist die Bedeutung einzelner Details mitunter nur für den Spezialisten einsichtig.

Das gilt in unterschiedlichem Maße auch für die sehr materialreichen Überblicke über die sakrale Topographie einzelner Städte von Fred Ruchhöft über Plau am See in Mecklenburg und Joachim Müller über Brandenburg an der Havel. Sehr allgemein gehalten sind dagegen die Ausführungen zur sakralen Topographie der wendischen Hansestädte von Ortwin Pelc, der die bekannten städtebaulichen Entwicklungen des 12. und 13. Jahrhunderts in vergleichender Absicht nebeneinander stellt. Im Hinblick auf Stralsund und Greifswald kommt Barbara Rimpel zu dem Schluss, dass der Anordnung der Pfarrkirchen im städtischen Raum eine bewusste Gestaltungsabsicht zugrunde gelegen haben muss, wie insbesondere die klaren Blickachsen zeigen. Karsten Igel vermag in seinem Beitrag eine Verbindung zwischen sozialer und sakraler Topographie im mittelalterlichen Greifswald aufzuzeigen, indem er der Frage nachgeht, wo die Menschen wohnten, die für die verschiedenen Pfarrkirchen stifteten. Seine Überlegungen bilden damit gewissermaßen den Übergang zu den Aufsätzen, die verschiedene Aspekte der Nutzung der mittelalterlichen Pfarrkirchen zum Gegenstand haben. Hierzu gehört neben der Frage nach der konkreten liturgischen Nutzung dieser Räume (Sabine-Maria Weitzel) auch deren Rolle im städtischen Rechtsleben als häufiger Ausstellungsort für notarielle Urkunden (Norbert Kersken). Eine Verbindung beider Funktionen könnte nach Dirk Schumann die Existenz der eingetieften Sakristeiräume in verschiedenen Pfarrkirchen erklären, die möglicherweise nicht nur der sicheren Aufbewahrung von Urkunden oder Kirchenschätzen dienten, sondern als Zitat einer Heiliggrabanlage auch liturgische Bedeutung hatten. Mit den Beispielen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Inschriften in den Kirchen Mecklenburg-Vorpommerns unterstreicht Christine Magin eindrucksvoll die Bedeutung der sakralen Bauten als öffentliche Räume, die als bevorzugter Ort für die liturgische Memoria von den sozialen Eliten auch zur Rang- und Statusdemonstration genutzt wurden. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den wechselseitigen Beziehungen zwischen Stralsund und Rügen, deren enge Verbindung sich sowohl an der Herkunft kirchlicher Ausstattungsstücke ablesen lässt (Joachim Zdrenka), als auch in einzelnen Messpfründen zeigt, deren Inhaber zwar auf Rügen ihre Stiftungsgüter besaßen, aber in Stralsund zu wirken hatten (Bengt Büttner). Eine Übersicht über den Bestand kirchlicher Bibliotheken geben Guntram Wilks am Beispiel des Doms von Greifswald und Anette Löffler, die insbesondere die liturgischen Handschriften in der Danziger Marienkirche in den Blick nimmt. Die Ausstattung einzelner Pfarrkirchen, bzw. die Geschichte des Umgangs mit einzelnen Stücken, von der Inventarisierung, über die Restaurierung und Umgestaltung bis zur Beseitigung, steht im Mittelpunkt der Beiträge von Burkhard Kunkel, Klaus Winands und Krzystof Maciej Kowalski. Bieten die Dokumentationen der Entstehungs- und Restaurationsgeschichten der Altaraufsätze, Kanzeln und Kelche vornehmlich der Stralsunder Pfarrkirchen sowie von St. Jacobi in Lauenburg (Pommern) eine etwas unübersichtliche Vielfalt einzelner Details, so könnte der letzte Aufsatz des Bandes von Michael Lissok den Schlüssel zu einer verbindenden Fragestellung dieser Aufsätze bieten. Die öffentlichen Diskussionen über die Umfeldgestaltung der pommerschen Pfarrkirchen im 19. und frühen 20. Jahrhundert zeigen, wie sich die Wahrnehmung und der Umgang mit diesen Bauten im Laufe der frühen Neuzeit allmählich wandelten. So ließe sich danach fragen, wann man damit begann, die sakralen Bauten auch oder vor allem als Kulturdenkmäler wahrzunehmen, sie mithin zum Gegenstand einer historischen Beschäftigung wurden. Hier könnte auch der Beitrag von Ursula Markfort über die verschiedenen Bau- und Sanierungsphasen der Jacobikirche in Stralsund, die bis zur Umnutzung des ehemaligen Gotteshauses zur „Kulturkirche“ in der Gegenwart reichen, wichtige Hinweise liefern. Bauformen und Baugeschichten, Patrozinien und Ausstattungen einzelner Pfarrkirchen werden ebenso wie ihre Nutzung und Wahrnehmung weiterhin zentrale Themen ihrer Erforschung bilden. Doch wäre es im Sinne einer interdisziplinären Zusammenarbeit wünschenswert, stärker als bisher, Fragen und Forschungsperspektiven zu entwickeln, die eine analytische Durchdringung der zahlreichen Einzelinformationen ermöglichen.